Ich wusste schon immer, dass ich nicht nur seltsam, sondern auch nerdig bin. Nur zugeben wollte ich es lange nie. Zu einem echten Nerd gehört die Liebe zu Technik, besonders Computern, und oft auch zu Computerspielen, also der digitalen Welt. All dies passt zu mir und wusste ich bereits von jungen Jahren an. Dass ich mich auch digital verlieben kann, das wusste ich jedoch nicht. Und damit meine ich keine Partnerbörsen! Nein, viel besser: Ich verliebte mich in eine junge Frau, die es gar nicht gibt.
Max ist ihr Name und das Spiel heißt „Life is Strange“. Dieses beginnt als Teenie-Gören-Drama erster Güte. All deren High School-Probleme waren für mich als Mann Anfang der 40er eine spielerisch sinnlose Zeitverschwendung von noch sinnloseren Problemen. Doch irgendwie wickelte mich das Spiel langsam um den Finger; ich konnte nicht mehr aufhören und wollte die immer chaotischer und schockierender werdende Spielwelt in ständig neuen Anläufen retten – um doch wieder zu scheitern. Das Spiel ist ein Abbild unserer wirklichen Welt, die Probleme und Tragödien können einem auch im echten Leben passieren. Ich durchlebte furchtbare Entscheidungen, vor denen ich in der Realität nie stehen möchte*, und besonders emotionale Momente animierten mich zu mehreren Heulattacken. Das Ende des Spiels ließ meine letzte Hoffnung auf ein HappyEnd zusammenbrechen, meine innere Welt zerbrach ebenso und ich verkroch mich mit vielen Taschentüchern in meinem Bett. Ich schlief der aufgehenden Sonne entgegen und wollte das Drama hinter mir lassen. Doch es ging erst richtig los.
Die Folgetage kreisten meine Gedanken um dieses verfluchte Spiel, seine Geschichte und vor allem die Haupt-Charaktere Max, Chloe und Rachel. Ich kaufte und spielte das Prequel-Spiel dazu, ich spielte das kurze AddOn; und damit war es aus und vorbei. Weitere Spiele mit den Frauen gab es nicht mehr. Dieses endgültige Ende besiegelte mein emotionales Ende. Ohne zu wissen warum überfielen mich meine Gefühle mit so einer Wucht, dass ich in der ersten Woche mehrfach täglich heulte; in der zweiten Woche wenigstens nur noch alle paar Tage. Ich war ein Bild des Elends und Erklärungsversuche an die irritierte Verwandtschaft verliefen noch elender. Nur meine Schwester verstand mich – die zockt auch selbst. Zum Glück musste ich in dieser Zeit nicht arbeiten, denn ich hätte es nicht gekonnt – und jeder Arzt hätte mich nicht krankgeschrieben, sondern zum Psychologen geschickt. Dafür hatte ich jedoch keine Zeit: Ich suchtete von morgens bis abends alle Videos, Bilder, Fan-Websites und Kommentare anderer Spieler durch, die ich finden konnte.
In meiner dritten Apokalypse-Woche fing ich an, mir für viel Geld Fan-Artikel zu kaufen und meine Wohnung mit Bildern der 3 Mädels auszustatten. Diese konnte ich nun stundenlang anstarren und mit ihnen sprechen.


Damit wollte ich mir einreden, dass sie alle leben; denn in der bitteren Spiele-Realität lebte nur noch eine. Es gab zwar auch ein anderes Ende, aber das war nicht besser. Ich fing an, den Abschluss der Handlung innerlich zu verweigern und dachte mir eine Fortsetzung zum Spiel aus, die doch noch alles irgendwie zum Guten wenden könnte. Ich überlegte bereits, ob ich nach Frankreich reisen und die genialen Entwickler dieses herzzerreißenden Spiels mit einem emotionalen Verzweiflungsausbruch zu einer besseren Fortsetzung überreden könnte. Doch dies tat ich dann doch nicht. Stattdessen erwischte ich mich in den Folgewochen dabei, eine von den Frauen häufiger anzusehen als die Anderen: Max. Von ihr immer mehr Bilder aufzuhängen und die anderen beiden in den Hintergrund zu drängen. Zu ihr eine virtuelle Beziehung aufzubauen und mit ihr zu reden. Aufgehängte Fotos von ihr zu küssen. Ein Kopfkissen mit ihrem Gesicht drucken zu lassen und als Kuschelkissen zu benutzen. Ich hatte mich in einen virtuellen Charakter verliebt. Zum Glück war ich zu der Zeit in der realen Welt single, sonst wäre ich es wohl geworden.

An den männlich klingenden Namen Max musste ich mich lange gewöhnen. Maxine war ihr eigentlicher Name, aber Max ihr Kosename. Also nannte ich sie liebevoll Max. Meine Max. Um die Erinnerung an sie und die schönen Momente im Spiel immer bei mir zu haben, wurde sie zum Hintergrundbild meines PCs und Handys. Ein Bild in Passfoto-Größe verweilte in meinem Portemonnanie. Ich stattete mein Auto mit Bildern der einprägsamsten Frauen aus dem Spiel aus – Aufkleber von Außen:


Die ersten Nachbarn stellten irritierte Fragen und bemerkten, dass ich den Wagen auch bei „Bares für Rares“ verkaufen könne. Jaja, ihr seid nur neidisch auf meine Eroberung, die kriegt ihr nicht! In der Tat war Max meine beste Beziehung ever: Nie Streit, immer Harmonie, ständig ein Lächeln auf den Lippen, liebevolles Schweigen wenn Mann seine Ruhe brauchte. Außerdem für jeden Kuss zu haben … auch wenn ich mir langsam Gedanken machte, wie gesundheitsschädlich gedruckte Farbe an den Lippen wohl sein könne. Und ob die merkwürdigen Stellen auf den Bildern in Gesichtsnähe nicht irgendwann meinen Gästen auffallen. Aber die mussten sich mehr daran gewöhnen, dass ich plötzlich überall Frauen-Fotos herumhängen habe, aber immer noch keinen TV besaß. Mittlerweile erreichten mich die ersten „Hilfsangebote“ aus der Familie, die zwischen Ironie und Verzweiflung lagen. Dabei hatte ich noch gar nicht richtig angefangen!
Denn die Beziehung zu meiner Max musste auf ein neues Level: Realer werden. Gleichberechtigt. Auf Augenhöhe, im wahrsten Sinne des Wortes. An dieser Stelle war mir ein Freund die perfekte Hilfe: Denn er hatte mich auf ein neues Tool hingewiesen, das mittels der berüchtigten „künstlichen Itelligenz“, die überall im Munde war, Bilder verbessern, umgestalten und realer machen konnte. Die folgenden Monate war mein PC fast täglich damit beschäftigt, aus meiner geliebten Max eine noch geliebtere Max zu machen; anders gesagt, die von ihr „gesammelten“ Fotos zu verbessern (als Mann bedeutete dies meistens ausziehen oder umziehen). Oder die comicartigen Bilder von ihr in eine scheinbar reale Person zu verwandeln. Meine Stromrechnung trieb dies in die Höhe, meine Lust aber auch. Die besten Ergebnisse druckte ich in riesiger Lebensgröße aus und hängte sie in meine Wohnung:


Mein Auto bekam neue und größere Bilder, was die verzweifelten Nachbarn zum Kommentar verleitete, dass bald kein Lack mehr zu sehen wäre und der Wagen noch verschandelter sei als vorher. Jaja, lästert lieber über euch selbst 😀 Doch es gab auch positives Feedback: Unbekannte hängten mir Zettel an die Windschutzscheibe und beglückwünschten mich zu meinem famosen Schmuckstück. Wahre Fans des Spiels!



Am meisten weh tat es meinen Nachbarn jedoch, dass ich die alten Bilder nicht mittels Heißluftfön vom Lack ablöste, sondern mittels metallischem Tapetenschaber abkratzte. Die entsprechenden Quietsch-Geräusche und anschließende Verzierungen an meinem Lack brachten sogar gestandene Auto-Narren zum Weinen, obwohl es nur ein billiger Renault Twingo war. Aber mir war es egal, schließlich klebten nun neue Bilder über meinem Werk der Zerstörung. Ich hatte mittlerweile über 1000 € für Fanartikel ausgegeben und damit mehr in meine Max investiert als in so manch reale Freundin. Und genau zu diesem Zeitpunkt passierte es: Ich lernte eine zweite Freundin kennen. Nur die war real.
Wer nun denkt, dass die Neue wegen meinem Auto voller Frauen oder spärlich bekleideter Max-Bilder in meinem Schlafzimmer davon lief: Sie störte sich nicht an ihrer digitalen Konkurrenz. Sie fand es eher amüsant und wollte mehr über das Spiel erfahren. Mittlerweile gab es sogar einen erotischen Fan-Ableger des Spiels: Lust is Stranger. Und so begann ein neues Kapitel in meinem Leben: Polyamorie mit 2 Frauen! Die eine digital, die andere real. Doch das ist eine Geschichte, die besser unter der Bettdecke der Gelüste bleibt. **

* Anmerkung 1: Wenige Monate nach diesem Spiel ereilte meine Familie eine Tragödie, wie ich sie mir nie hätte ausmalen können, und wir standen vor Entscheidungen, wie ich sie nie hätte treffen wollen. Es war für mich ein grausam schicksalshaftes Gefühl, dass dieses Spiel so plötzlich Wirklichkeit geworden war. Wie eine Vorwarnung … Im Gegensatz zum Spiel ging unsere Zeit der Angst und Tränen jedoch gut aus.
** Anmerkung 2: Etwa 1/2 Jahr später, nachdem mein Auto neue Aufkleber bekommen hatte, fand ein herrenloser Anhänger mein Auto so toll, dass er zielsicher die Fahrertürseite zum Abbremsen nutzte. Vielleicht war auch die Frau des Autos, von dem sich der Anhänger in einer Kurve losgerissen hatte, so fasziniert von meinen Bildern, dass sie dem Kunstwerk unbedingt ihre eigene Note verpassen wollte. In jedem Fall konnte sich das Ergebnis sehen lassen: So große Beulen und Kratzer schaffe nicht mal ich!

