Besuch bei der Kuh

Und wieder Moritz – auch bei dieser Geschichte hatte er seine Finger im Spiel. Wie üblich machten wir an diesem Tag einen beliebten Kletterbaum nahe meines Elternhauses unsicher. Warum Kinder sinnlos ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie testen, welche Dicke eines Astes sie noch tragen kann, werden Erwachsene nie verstehen. Kinder aber auch nicht, sie machen es einfach. So kam es, dass Moritz sich auch nicht fragte, ob der dünne Ast in 4 m Höhe ihn noch halten könnte. Mit einem Krachen wurde ihm klar dass nicht. Doch er hatte Glück, der Ast hing noch halb am Baum und er halb am Ast, Beine frei nach unten baumelnd. Während ich am Boden stand und seine Notlage bewunderte, schrie er mir zu: „Hilf mir!“ Ja wie denn? „Bring mir Kissen, auf die ich fallen kann!“

Da machte es Klack bei mir. Meine Schwester und ich hatten einen Toberaum im Keller, in diesem lagen dutzende Schaumstoffkissen. Damit konnte man wunderbar Kissenschlachten machen, Kissenburgen bauen – und eben ein Kissensprungtuch kreieren. Daran dachte wohl auch Moritz. Nun dauerte es seine Zeit, bis ich die Haustür aufgeschlossen hatte, mir im Keller Kissen geschnappt und damit wieder zum Baum gerannt war. Meine Schwester hatte von unserem Akrobatik-Versuch mittlerweile Wind bekommen und half mit, Kissen zu tragen. Nach mehreren Minuten ging Moritz im Baum die Kraft aus, was er lauthals mit „Ich kann nicht mehr!“ ankündigte. Ist ja gut, da unten liegen doch Kissen. Wird schon gut gehen! Und er fiel – punktgenau daneben.

Der zweite Teil des Tages bestand für meinen Freund darin, seine schmerzenden Gelenke wieder in Ordnung zu bringen. Wie es schien, war ausnahmsweise mal nichts gebrochen. Gut, heute hatte er auch nicht versucht, einen alten Regenschirm mit gebogenem Griff an einer Seilrutsche zu benutzen, aber das ist eine andere Geschichte, die mich auch nichts angeht.
Meine Schwester hatte sich mittlerweile wieder verzogen und ich als einziger Verbliebener, der noch zum Klettern fähig war, konnte diese Einlage natürlich nicht auf mir sitzen lassen. Ich entschied mich für einen tieferen und deutlich dickeren Ast, der in vielleicht 2 m Höhe waagrecht über den Boden hing. Hätte ich damals Physik gehabt, wären mir vielleicht die Hebelgesetze bekannt gewesen. Aber als Kind krabbelst du so einen Ast natürlich gedankenverloren entlang und freust dich, dass er hält, während sich die Hebelwirkung mit jedem Zentimeter massiv erhöht. Und es kam, wie es kommen musste.

Der Unterschied zu Moritz lag nun nicht nur in der Höhe. Ein Fall aus 2 Metern macht einem Kind wenig aus, besonders wenn es dabei in einer weichen Wiese landet. Eher nachteilig war jedoch die Tatsache, dass mein Ast bis über eine Kuhwiese reichte, die mit Stacheldraht umzäunt war und zusätzlich unter Strom stand. Zu meinem Glück war ich so weit auf dem Ast entlang gerobbt, als er brach, dass ich bereits auf die Kuhwiese fiel. Zu meinem Pech reichte es für ein Bein jedoch nicht. Falls du jemals mit deinem Hosenbein in einem Stacheldrahtzaun festhängst, jede Sekunde einen Stromschlag bekommst und verdutzte Kühe von oben auf dich herunter gucken, weißt du wie begrenzt witzig das ist. Du kommst nämlich einfach nicht an deine verdammte Hose heran. Die Begeisterung meines Freundes, meine Hose aus dem Draht zu befreien, war eher mäßig, bekam er dabei doch auch ständig einen gewischt. Irgendwie schaffte er es aber und nun stand Moritz vor der Wiese und ich auf dieser – umgeben von blöd glotzenden Kühen.

Zurück suchte ich mir das normale Gatter der Wiese und schwor, es dem Baum irgendwann heimzuzahlen.