Wohl nur wenige werden in ihrem Leben dem Drang wiederstanden haben, die beliebteste Flüssigdroge der Welt zu probieren. Und noch weniger werden danach entschieden haben, dass diese nichts für sie ist. Manche trinken Bier, ohne dass es ihnen schmeckt, weil der Rausch dafür Spaß macht. Andere greifen gleich zu zweitstelligen Prozenten, damit es schneller geht. Und wieder andere testen regelmäßig, ob das hiesige Krankenhaus gut mit Alkoholvergiftungen umgehen kann. Kurz gesagt: Nach dem Rausch ist vor dem Rausch! Dieses Verhalten ändert sich in der Regel mit dem Alter, falls dann noch genug Gehirnzellen übrig sind, um vom Konsum- in den Genussrausch zu wechseln. Oder bekommen wie ich eine Alkoholunverträglichkeit, wie sie manche mit Laktose haben. Ja liebe Männer, so eine Intoleranz-Störung gibt es auch mit Alkohol! Freut euch, denn sie kann als Alterserscheinung auftreten. Dann erzeugt nicht nur die Vorfreude auf ein Bier Herzrasen, sondern auch die Stunden danach.
Als angehender Jugendlicher und Alkohol-Verteufler hatte ich noch keine solchen Probleme. Für mich war Alkohol die Ausgeburt der Hölle. Sorgte er doch auf den ersten Parties im Minderjährigen-Alter dafür, dass Freunde komische Dinge sagten, noch komischere Dinge taten und die freundlichsten Gesellen zu den größten Arschlöchern wurden. Oder andersherum. Manche sagten auch einfach gar nichts mehr oder erzählten plötzlich tränenüberströmt ihre schwersten Schicksalsschläge: Traumatisierende Horoskope, Süßigkeiten klauende Brüder oder die gescheiterte Alterskontrolle beim Alkoholkauf. In jedem Fall wurden alkoholisierte Menschen anders als sonst und das war mir suspekt. Außerdem wurde vielen irgendwann schlecht, sie kotzten die Bude voll und sahen aus wie eine Leiche bei der Beerdigung. Alles Dinge, die ich als Kontrollfreak nie haben wollte – ich wollte mich immer unter Kontrolle haben.
Aber wie das so ist, auch ich konnte mich der suchtmachenden Wirkung von Alkohol nicht auf Dauer entziehen. Als Latein-Genie, Mathe- & Physik-Liebhaber, Klassenstreber und unfähiger Frauenverführer hatte ich einen Ruf zu verlieren. Und doch fragte ich mich immer häufiger, wie das Zeug so schmecken würde, nachdem immer mehr meiner Freunde und Schulkameraden der Sucht verfielen. Und so kam der verhängnisvolle Tag:
Am Vormittag hatte ich für meine Mutter Erdbeeren auf einem Erdbeerfeld gepflückt und nebenbei auch einige gegessen. Eine Tatsache, die mir noch fast zum Verhängnis werden sollte. Abends ging es dann auf die x.-te Party meiner Klasse im Garten eines Kollegen. Während sich meine Mitschüler-Schar allmählich ins Nirwana abschoss, überlegte der Klassenstreber fieberhaft, wie er auch etwas Alkohol testen könne, ohne dass es auffiele. Nur etwas!
Die Gelegenheit ergab sich, als sich das Besäufnis von der Terrasse in den Garten und vor das Haus verlagerte. Auf dem Terrassentisch standen dutzende Flaschen und Gläser in allen Füllstadien. Und die Terasse stand erhöht, somit war es aus dem Garten im Halbdunkeln schwer zu erkennen, was ich oben machte. Mein Griff ging zur ersten Alkoholika-Flasche: Wein. Ne, die war zu voll, das fällt auf wenn die leerer wird. Ich suchte mir eine andere, beinahe leere Flasche und kippte die restlichen Tropfen in meinen Becher, der bislang nur Cola gesehen hatte. Mit Engels-Unschuldsmiene führte ich den Becher zum Mund – und verzog das Gesicht. Bäh, wie herb! Gut, dann was anderes: Ich fand mehrere praktisch leere Bierflaschen, aus denen sich immer noch etwas Restbestand herausschütten ließ, und testete mich durch die Bierwelt: Auch hier war alles bäh, meist bitter, aber egal. Ich wollte es jetzt wissen! Anschließend arbeitete ich mich über beinahe leere Likör- bis zu Vodkaflaschen vor. Die ersten waren zu süß, die zweiten brannten, aber mittlerweile hatte ich an meinem Test Gefallen gefunden und sich meine Miene von angewidert zu entzückt verwandelt. Und niemand hatte mich bislang gesehen!
Mir wurde bewusst, dass Alkohol doch gar nicht so schlecht ist. Irgendwie war die Welt entspannter geworden und meine bereits alkoholtechnisch mutierten Mitschüler erschienen mir wieder normaler. Also ruhig noch etwas mehr testen, das passt schon noch! Doch das Reste-Entleeren einzelner Flaschen war mir zu langweilig geworden. Als berühmt-berüchtigter Mixer-Mensch, der bereits bei fester Nahrung alles zusammenmischt, was irgendwie möglich ist, entschied ich, dass dies auch bei Alkohol möglich sein muss. Daher suchte ich mir alle Flaschen und Gläser zusammen, die einigermaßen leer schienen. So fanden Radler, Bier, Wein, Sekt, Likör, Kurze, Wodka, Rum, Gin und weiteres seinen Weg in mein Glas. Zusammen. Auch wenn es dabei um Gläser ging, aus denen bereits getrunken worden war – etwaige Keime wird schon der Alkohol für mich richten. Freudig erregt führte ich meine Kraftstoff-ähnliche Kombination in mich ein. Mein Körper reagierte mit kurzfristigen Schüttelattacken jeglicher Art, aber das war nicht schlimm. Denn mein Motor war warm gelaufen.
Nun muss man dazu sagen, dass ich damals einfach zu blöd war um zu kapieren, dass zwischen 5 und 50 % Alkohol ein Unterschied besteht. Mischen ist schon eine dämliche Idee, aber dabei nicht mal auf die Zahlen an den Flaschen zu achten, ist noch dämlicher. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich arbeitete mich um den großen Terrassentisch herum und leerte dutzende von halb-leeren Flaschen und Gläsern im Mischverfahren. Da ich nicht wusste, wann jemand zu mir hoch kommen würde, tat ich dies genussvoll schnell. Der Streber durfte sich ja nicht erwischen lassen. Nachdem ich die Runde um den Tisch geschafft hatte, wankte ich zur Treppe und ließ mich dort nieder. Huiui, mir ist so anders! Meine Unwissenheit schloss damals auch die Tatsache ein, dass Alkohol verzögert wirkt und dass Anfänger wenig brauchen, um im Vollrausch zu landen. Ich sollte dies in den folgenden Stunden aber lernen.
Eine Weile später schaffte ich es irgendwie, von der Treppe aufzustehen und beschloss, vor das Haus zu gehen. Nachher merkt man mir doch etwas an … vor dem Haus fiel ich vom Bordstein, legte mich neben meine dort verweilenden Klassenkameraden und erzählte ihnen, wie schön der Sternenhimmel doch heute sei. Die ersten schöpften Verdacht. Nach einer Atemkontrolle hatte ich einige ungläubig staunende Mitschüler vor mir stehen, während ich lallend beteuerte, nur Cola getrunken zu haben. Doch es half nichts: Voller Freude wurden nun einige Rede- und Stabilitätstests mit mir gemacht, bis man mich begeistert in den Garten zurück trug: „Hey Leute, der Klassenstreber ist sternenhagelvoll!!!“ Plötzlich hatte ich ungeteilte Aufmerksamkeit, der Außenseiter wurde mit Johlen in die Klassengemeinschaft reintegriert und als Willkommensgeschenk drückte man mir eine volle Wodka-Flasche in die Hand. Lange weilte meine Freude jedoch nicht.
Wie zu erwarten war, wollte die Mixtur wieder raus – im Rückwärtsgang. Als ich mich diesem Zustand nährte, der sich dadurch ankündigte, dass der Garten anfing Endlos-Karussell zu spielen, drückte man mir mitleidig einen Eimer in die Hand. Und dann ging es los. Das Schauspiel wollten viele nicht verpassen und selbst schöne Erinnerungsfotos an dieses Highlight wurden geschossen, deren Betrachtung mir nur 1x in meinem Leben gewährt wurde. Jedoch hielt sich die Freude nur kurz: „Der kotzt Blut!“ schrie jemand. Weitere Rufe, Aufregung. Es wäre wohl eine wilde Diskussion um einen Rettungswagen entbrannt, wenn nicht eine Mitschülerin die aufgescheuchte Bande hätte beruhigen können: „Das sind nur Erdbeeren. Der war heute auf´m Feld pflücken. Hat er mir vorhin erzählt.“ Genau eine Person wusste, dass ich Erdbeeren gepfückt hatte, weil ich es ihr auf der Hinfahrt erzählt hatte – die gute Seele unserer Klasse, die immer alle Besoffenen nach Hause brachte. Heute erstmals mich.
Dort angekommen wollte ich nicht, dass mich meine Eltern so sehen, und bat das Mädel voller Verzweiflung, mich bis ins Bett zu bringen. Für unseren Klassenengel kein Problem. Aber dem machte meine Mutter einen Strich durch die Rechnung. Unsere Haustür hatte – zusätzlich zum Schloss – noch eine Sicherheitskette. Die war ungewöhnlicherweise eingerastet worden und ich hatte keinen Schlüssel! Normalerweise machte das immer der letzte, der ins Bett ging, das wäre heute ich gewesen. Und nun musste mein Schutzengel meine Mutter wachklingeln und das Häufchen Elend übergeben, dass lallend versuchte zu erklären, dass alles ein großes Missgeschick gewesen sei. Meine Mutter blieb milde gestimmt, es gab keinen Ärger und vor Dankbarkeit hinterließ ich ihr in der Nacht eine bunte Spur von meiner Zimmertür bis zum Klo. Die ich zwar glaubte beseitigt zu haben, nachdem sie entstanden war, aber in dem Zustand glaubt man vieles. Auch meine Kameraden blieben mir wohlgesonnen: Auf meiner nächsten Geburtstagsparty wurde mir mein „Gedächtnis-Erinnerungseimer“ überreicht – derselbe, den ich am Abend gefüllt hatte. Er sollte mich viele Jahre begleiten … .