Der Waffelbäcker

Es gibt Menschen, die haben ihren Beruf verfehlt, ohne es zu merken; dann es gibt Menschen, die es immerhin bemerken, aber nichts dagegen tun; und dann gibt es mich: Der versucht im ausgewählten Beruf zu beweisen, dass er in einem anderen Beruf besser ist. Wenn diese Wahl dann IT und Bäcker bedeutet, wird es skuril. Immerhin habe ich nicht versucht, als Bäckerei-Fachkraft meinen Meister von Sinn einer Server-Client-Umgebung mit SAP ERP zu überzeugen, deren Dimensionen und Kosten eher für einen Mittelständler mit hunderten Angestellten geeignet wären als für ein 3-Mann-Unternehmen. Aber die IT-Abteilung eines namhaften Großunternehmens davon zu überzeugen, dass wir im Bäckerei-Handwerk besser sind als in der IT, zeugt auch nicht gerade von fachlicher Kompetenz. Selbst wenn das Unternehmen in der Lebenmittelbranche tätig ist. Dennoch sei bereits gesagt: Bis auf meine Chefin nahm es mir lange niemand übel, dass die Waffeln besser schmeckten als unsere IT rund lief!

Man muss sich das in etwa so vorstellen: Nach meiner sehr langen und schönen ersten Beziehung war diese zu Ende gegangen. Für meine Freundin war ich Jahre vorher einige Fahrstunden von meiner Heimat weggezogen, wodurch ich meinen alten Freundes- und Familenkreis nicht mehr in schneller Greifweite hatte. Auch wenn ich recht locker auf neue Menschen zugehen kann, sorgt meine – zumindest als ungewöhnlich wahrgenommene – Art doch dafür, dass es mit neuen, echten Freundschaften dauert. Daher hatte ich zu diesem Zeitpunkt keinen großartigen Freundeskreis in meiner Nähe und war abends oft alleine. Dafür aber ein traditionelles Familienunternehmen als Arbeitgeber, in dem jeder Mitarbeiter seine Persönlichkeit bewahren konnte. Es durfte also geweint, gelacht, gestritten, geflirtet werden – was gab es Besseres als neuen Lebensmittelpunkt! Die Trennungszeit war für beide Seiten seelisch herausfordernd und ich nahm dankbar die Möglichkeit an, meinen sozialen Mittelpunkt in meine Firma zu verlagern. Was macht man als gutes Familienmitglied: Man gibt Dankbarkeit zurück. Das Ergebnis brachte meine Chefin an den Rand des unfassbaren Zusammenbruchs und meine IT-Kollegen erzählten meine Taten als Anekdoten fröhlich in der Firma herum.

Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass meine damalige Chefin eine emotional schwierige Persönlichkeit war und ich unter ihr manchmal sehr gelitten habe. Für diese Geschichte tut sie mir aber doch etwas leid. Meine IT-Kollegen waren hingegen bereits gewohnt, dass ich anders war. Etwa als es draußen tagelang schneite und ich auf die Idee kam, vor der Fensterfront von IT und Einkauf einen Schneeengel zu machen. Oder als ich die wunderschön langen Eiszapfen an der Regenrinne entdeckte, diese abbrach und andersherum in den Gehweg zum Hauptgebäude steckte, was ironischerweise der Chef der Abteilung für Verbesserungsprozesse weniger gelungen fand. Oder als ich nach einer sommerlich-durchzechten Nacht in Lübeck im Graben neben dem Produktionsgebäude einschlief. Oder Jahre später mit einer neuen Freundin auf dem Parkplatz meines Arbeitgebers im Dunkeln herumknutschte und dabei die Nachtsicht-Überwachungskamera vergaß. Oder mir in der Tee-Küche der Einkaufsabteilung, in welche ich in ein eigenes Büro ausgelagert worden war, fröhlich ein stinkendes Käse-Omelette brutzelte, während nach und nach alle Bürotüren zum Flur hin zugeknallt wurden. Soviel zum Firmen-Leitmotiv „Open Doors“, dachte ich mir anfangs verärgert, bis ein Kollege mich darauf hinwies, dass demnächst das Stockwerk evakuiert werden würde.

Aber zurück zum eigentlichen Thema. Den Höhepunkt hatte ich als ITler, der sich zum Bäcker machte. Aus Dankbarkeit zu meiner grandiosen Firma und dem Gefühl, dort wie zu Hause zu sein, kam ich nämlich auf die Idee, Waffelbäcker zu werden. Da ich nunmal nicht für 2, sondern für gefühlt 200 Leute backen wollte, brauchte ich kiloweise Teig. Immerhin ersparte ich es meiner Firma, diesen im Unternehmen zu mixen, und bereitete die Massen zu Hause vor. Da ich zu der Zeit kein Auto besaß und meine Fahrrad-Taschen den Teig nur vertikal fassen konnten, während meine Schüsseln eher in die Horizontale gingen, kam ich auf eine List: Abends in die Truhe damit und morgens den noch gefrorenen Teig mit Schüsseln um 90 Grad gekippt in die Taschen! Dann schnell zur Firma, bevor alles auftaut und ich Teigtaschen-Suppe habe.

Nun kam der eigentlich imposante Teil: Nachmittags stempelte ich mich aus und ging in die IT-Finanzbuchhaltungs-Küche im Keller des Hauptgebäudes, um dort alles für meinen neuen Beruf vorzubereiten. Eine Stunde später zog ein unwiderstehlicher Waffelduft durch die Keller-Etage und lockte bereits die ersten ITler in mein neues Reich. Wenig später erreichte die Verlockung auch das Erdgeschoss und bescherrte mir neue Freunde in der FiBu. Selbst die in diesem Stockwerk angesiedelte Geschäftsführung stellte keine Fragen, sondern ließ mich gewähren. Da sie jedoch nicht selbst vorbei kam, entschloss ich mich einfach, die GF-Büros der Reihe nach abzuklappern und köstliche Waffeln anzubieten. Nach etwas irritierenden Blicken wurde mein Angebot fast immer angenommen. Sogar den ersten und zweiten Stock des Gebäudes konnte ich nach mehreren Stunden Bäckerei-Handwerk herunterlocken, ohne nachzufragen, zog doch der Duft auch bis dorthin. Geschäftliche Kundenbesuche meines Unternehmens, die traditionell im Erdgeschoss empfangen wurden, fragten bereits nach, ob das Unternehmen sein Geschäftsfeld gewechselt habe.

An dieser Stelle fand meine Chefin doch langsam ihren moralischen Tiefpunkt, da meine Waffelexzesse kein einmaliges Werk blieben. Nachdem der erste Feldversuch so wunderbar angenommen worden war, stelle ich nämlich auf Massenproduktion um. In Folge belieferte ich meine Kollegen fast wöchentlich mit diversesten Teigsorten samt experimentellen Kreationen, so dass die Geschäftsführung am Ende die Wahl hatte, ob sie Knusper-Crunchy-Hafer-Waffeln, Erdbeer-Blaubeer-Milchshake-Waffeln oder doch lieber die klassische Version mit extra Schokostückchen haben wollte. Auf diesem Höhepunkt meines – selbst gar nicht bemerkten – Jobwechsels kam meine Chefin in meine neue Küche und hielt mir vor, dass sie mich nicht als Waffelbäcker angestellt habe. Sie sei im letzten Abteilungsmeeting von den anderen Abteilungsleitern erniedrigt worden, dass die IT ja nie etwas tue außer Waffeln backen. Dem widersprach ich zwar heftigst, da ich für meine neue Wahlfamilie die fehlenden Arbeitszeiten abends nachholte und meistens erst vom Werkschutz nach Hause geschickt wurde.

Aber es half nichts: Meine Bäcker-Karriere ging ihrem Ende entgegen.