Wandern auf Madeira

Wie, ich war in Lebensgefahr?

Die Fähigkeit, mich in Situationen zu bringen, welche die meisten anderen Menschen nicht erleben (wollen), habe ich bereits seit meiner Kindheit. Die Fähigkeit, Gefahr erst hinterher zu bemerken, macht dies zusätzlich spannend. Ein paar Schutzengel habe ich bereits gegrillt, aber der Rest tut wie gewohnt seinen Dienst. Einer ging auf Madeira bei drauf.

Madeira ist für mich eine Trauminsel: Fast immer warm und wolkenlos auf der Südseite, so dass ich kurzärmelig herumlaufen konnte, selbst nachts; aber nie war es zu heiß. Überall bergig und zugleich ist man ständig nahe am Meer. Es gibt abenteuerliche Levadas, neben denen man an steilen Berghängen entlang wandern kann; das sind von Menschen gebaute Wasserläufe, die mit leichtem Gefälle das Wasser aus dem regenreichen Norden in den Süden transportieren. Je nach Ausbaustufe laufen daneben breitere Wanderpfade mit Geländersicherung entlang, schmale Trittpfade ohne Sicherung oder im worst case muss man auf dem Rand der Levada selbst balancieren. Außerdem verlaufen diese gerne durch enge Tunnel. Zudem ist Madeira die Insel der freilaufenden Katzen (und leider ebenso der Wachhunde). Auch wenn die Einwohner zum Teil sehr arm leben, so empfand ich noch etwas als außergewöhnlich: Ich habe mich in Armenvierteln nie unwohl oder bedrängt gefühlt. Die Leute gucken zwar, was der einsame Wanderer da macht. Warum alle Wachhunde bellen. Aber sie waren immer hilfsbereit, wenn ich Fragen hatte.

So entschloss ich, an einem wundervollen Tag eine lange Wanderung zu machen. Am Vortag hatte ich mir eine Flasche Bananenschnaps gekauft; warum nicht einpacken, es soll ja keine Klettertour werden. Mit zusätzlich etwas Essen und Wasser ging es los. Vom Hotel aus immer steil den Berg hoch: Mehr als berghoch oder bergrunter bleibt einem auf dieser Insel auch kaum übrig. Unterwegs testete ich den Schnaps und befand ihn für so gut, dass er fortan als einziges Getränk diente. 2 Stunden später war die Dehydrierung endlich erreicht und ich klappte in der prallen Sonne mit einem Kreislaufzusammenbruch hernieder. Widerstrebend tauschte ich Schnaps gegen Wasser, peppelte mich wieder hoch und wanderte weiter.

Es ging nun stundenlang Levadas entlang, manchmal durch kurze Tunnel, wo mir meine Taschenlampe gute Dienste leistete.

Die Aussicht von oben war fantastisch, steile Hänge hinunter bis zum Meer! Völlig fasziniert kam ich schlussendlich zu 2 Schildern direkt am Verlauf einer Levada: Eines warnte vor Steinschlag, das andere davor, dass man selbst als Stein enden könnte:

Gut, dachte ich mir, ich bin bergerfahren und außerdem waren es keine „Durchgang verboten“-Schilder – zumindest nicht in meiner Interpretation. Die folgenden Brandruinen und der immer schmaler werdende Weg mit steilem Abgrund lehrte mich eines Besseren. Steine gab es nämlich tatsächlich von oben, aber die waren beim Fallen netterweise weiter weg. Näher dran war wiederum das – zumindest noch teilweise vorhandene – Geländer, was neben der Levada entlang führte. Wie ich mit beherztem Griff feststellen durfte, war es genauso stabil wie die fallenden Steine. Naja, wer braucht schon Geländer, solange wenigstens der Weg hält. Auch die Landschaft war ungewöhnlich schwarz geworden. Auf Madeira hatte es vor einem Jahr, das war in 2016, eine furchtbare Brandkatastrophe gegeben, ich war also im Brandgebiet angekommen. Wie ich voller Faszination feststellte, konnten sogar Steine so gegrillt werden, dass sie bröckelig wurden – mit Vorliebe die, auf denen ich ging.

Nach einem Zug Bananenschnaps für die Nerven ging ich weiter. In der Ferne sah ich mein Tagesziel, eine Seilbahnstation, warum also nun umdrehen. Mein Plan hatte jedoch eine Schwachstelle: Der anvisierte Weg zur Seilbahn verließ die Levada und ging mitten durch ein verbranntes Waldgebiet steil den Abhang hinunter. Vom Weg war nichts mehr übrig, stattdessen empfing mich ein Wirrwarr aus verkohlten Ästen und allerlei anderen verbrannten Sachen, die ich mir nicht näher angesehen habe. Sehr dumm. Laut Karte konnte ich auch der Levada folgen, durch einen langen Tunnel, um dann von der anderen Bergseite über eine Straße zur Seilbahn zu gelangen. Durch so einen langen Tunnel wollte ich schon immer: Plan! Was ich nicht wusste: Der Tunnel war fast 4 km lang.

So ein langer Levada-Tunnel ist ein Highlight für sich: Hinter einem wird das Tageslicht immer kleiner, während vorne der Mini-Lichtpunkt einfach nicht größer wird:

Danke an die Erbauer, dass der Tunnel wenigstens schnurgerade ist. Weniger danke dafür, dass es verdammt kühl wurde, je weiter ich kam. Lange Kleidung hatte ich nicht dabei. Egal, der Schnaps hielt mich anfangs warm. Nach guten 15 Minuten geradeaus Gehen kam die verfluchte Dunkelheit-Angst hinzu: Hinter mir könnte ja das böse Levada-Monster lauern und mich fressen wollen. Schnaps hilft übrigens auch dagegen. Nun wurde der Tunnel immer enger und die glatte Decke zusätzlich steinig-bröckelig, aber immerhin optisch interessanter:

Dagegen hilft Schnaps leider nichts, nur gegen die Kopfschmerzen bei einem Zusammenstoß; der auf Grund meiner Promillelage immer wahrscheinlicher wurde. Als dann eine Markierung mit der Zahl 25 auftauchte, dämmerte es mir langsam, dass wohl das Komma fehlte und es 2,5 heißen müsste; ich bekam eine furchtbare Vorahnung, dass dies die Kilometer sind und bestimmt nicht die bereits zurück gelegten. Der Schiss siegte und ich drehte ich um:

Nach 1 Stunde Dunkelheit stand ich wieder in der warmen Freiheit und war keinen Meter weiter gekommen, aber deutlich voller als vorher. Dies brachte mir eine neue Entschlussfreudigkeit, wie ich sie kaum kannte, und eine neue Erfahrung: Abstieg durch ein Holzkohle-Minenfeld! Ja, ich habe geschimpft, wenn jeder rettende Ast beim Zugriff in meinen Fingern zerbröselte, aber im Weg liegende Baumstämme zu hart waren, um hindurch zu springen. Und ja, man kann auf Asche rutschen! Ob diese Erkenntnis nun anderen hilft, mag bezweifelt werden, sie verhalf mir aber zu wundervollen Farbschattierungen in allen Schwarz-Weiß-Tönen. Nochmal eine gute Stunde später war ich an der Seilbahn angekommen und kletterte über die – hier vorhandene – Absperrung mit dickem Hinweisschild, das sogar ich verstand. Die Lampe daneben hatte am Lampenschirm sichtbare Hitzeverformungen erlitten:

Ein paar Meter weiter folgte sogar eine zweite Warnung auf portugiesisch: „Betreten verboten! Lebensgefahr!“ Wie gut, dass ich dies mit meinem bisschen Spanisch lesen konnte. Warum gab es das eigentlich auf der anderen Seite nicht?

Voller Zufriedenheit setzte ich mich in ein kleines Café neben der Seilbahn, um einen Kaffee und leckeres Avocado-Brot mit handgekochten Chips zu genießen. Der Kellner betrachtete mich lange mit einer Mischung aus Verwirrung und Entsetzen und fragte mich dann, woher ich gekommen war. Nach meiner Antwort schüttelte er den Kopf, murmelte irgendwas mit „Touristen“ und bediente mich ab da an anstandslos. Dass mein Gesicht einer Indianer-Kriegsbemahlung glich wusste ich erst, als ich bei der Seilbahn ankam und im Glas des Gebäudes meine Spiegelung sah. Davon abgesehen, dass es weiter körperabwärts nicht besser wurde. Aber die Portugiesen sind wohl einiges gewöhnt. Die Seilbahnfahrt bekam ich jedenfalls ohne Nachfragen und selbst mein Taxifahrer zurück ließ mich einsteigen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich gab ihm ordentlich Trinkgeld – für das Entfernen der Asche vom Beifahrersitz.