Moritz

Akt 1 : Kuhdraht
Dies gehört zu den typisch (männlichen) Kindertests: Irgendwann probiert jedes Kind, ob der Kuhdraht auf der Wiese wirklich unter Strom steht. Und ob Strom weh tut. Manche fassen direkt an, andere sind intelligenter und nehmen einen Grashalm. Der Lerneffekt ist in jedem Fall der Gleiche. Naja, sollte. Dann gibt es nämlich die unbelehrbaren Kinder, die einen zweiten Test machen müssen, da es einfach nicht genug weh tat. Wir gehörten dazu. Schlau wie wir waren, stellten wir fest, dass das Berühren mit einem Ast gefahrlos war. Also hing es davon ab, wie man den Draht berührt. Logische Folgerung von Moritz: Am besten gar nicht. Und was gab es da Besseres, als sich etwas Erleichterung zu verschaffen und beim Ziel-Weitpinkeln auch mal auf den Draht zu zielen … schließlich berührten wir ihn damit nicht. Die Freude meinerseits, dass es keinen Schlag gibt, währte nur gefühlte 1,3 Sekunden. Die anschließende Lähmung der Genetalien währte deutlich länger.

Akt 2: Baum
Kinder klettern auf Bäume. Ich mit großer Vorliebe und das gerne in Höhen, wo jeder Sturz hätte tödlich sein können. Irgendwie bin ich nie tief gefallen und wenn dann nur, um zu testen, ab welcher Höhe ein Sturz weh tut. Interessanter wird es, wenn der Baum umgestürzt ist, sich aber mit seiner Krone in einem anderen Baum verfangen hat, dadurch schräg liegt und den Boden noch nicht ganz berührt. Auf so einem Baum kann man wunderbar drauf lang balancieren. An diesem Tag war ich mit 2 Freunden unterwegs, einer davon Moritz. Während beide auf dem Baum entlang balancierten, fiel mir auf, dass man durch die Schräglage bedingt unter dem Baum durchklettern konnte. Diese geniale Erkenntnis setzte ich in die Tat um, während die beiden über mir waren. Noch genialer war, dass in dem Augenblick der Baum mit seiner Krone durchrutschte und ganz waagrecht auf den Boden fiel. Die Kopfnuss, die ich bekam, spielt ihre Folgen bis heute aus – „erst machen, dann denken“ war geboren. Wieso ich am Ende dieses Akts neben dem Baum und nicht darunter begraben lag, bleibt ein Geheimnis, das mir auch meine beiden Freunde nicht erklären konnten.

Akt 3: Feuerwerk
Moritz hatte eine Neigung zu allen Dingen, die gefährlich waren. Sprengstoff gehörte besonders dazu. Böller in Mauselöcher zu stecken oder damit die Haltbarkeit von Spielzeugen zu testen, gehörte noch zu den harmloseren Dingen. Ich wollte nie wissen, wie er in seinem Alter an das Zeug kam, ich wollte aber immer mitmachen. So auch an diesem Tag. Moritz kam bei mir mit einem großen Rucksack vorbei und meinte grinsend, wir könnten eine Menge Spaß haben. Flugs angezogen und dann ging es nach draußen. Was auch immer er vor hatte, es sollte niemand sehen, also gingen wir in den Wald und fanden eine einsame Lichtung. Nun öffnete Moritz seinen Rucksack und zum Vorschein kam eine gigantische Aneinanderkettung von Böllern jeglicher Art: Wirbel, Frösche, Teppiche, Raketen, Heuler und was weiß ich. Alle Böller hatte Moritz in stundenlanger Arbeit mit einer langen Zündschnur verbunden. Voller Vorfreude stellten wir das Konstrukt auf einen Baumstumpf und zündeten es an.
Die ersten Sekunden überwiegte die Freude eines hübschen Feuerwerks. Die nächsten Sekunden überwiegte der taktische Rückzug in sichere Entfernung, da die einzelnen Böller mittlerweile die Fläche eines Einfamilienhauses erobert hatten. Die folgenden Minuten überwiegten ausschließlich offene Münder mit einer Mischung aus begeistertem Entsetzen, als sich die Lichtung vor uns in ein lärmendes Inferno verwandelte. Nachdem die Sound&Light-Show beendet war und der unheimliche Krach langsam verebbte, zog eine gigantische Rauchschwade durch den Wald gen Himmel. Uns beiden wurde so langsam klar, dass das Ärger geben könnte; also folgte der nächste taktische und völlig unauffällige Rückzug vom Ort des Geschehens, im Fachjargon auch Flucht genannt. Später hörten wir in der Ferne Tatüü-tataa. Ob das uns galt oder Zufall war – ungeklärt. Meine Mutter stellte jedenfalls keine dummen Fragen, warum der Wald hinter uns rauchte.

Akt 4: Waldhütte
Moritz und ich hatten einen Lieblingsspielplatz: Einen alten Steinbruch mitten im Wald. Im Steinbruch stand eine halb zerfallene Holzhütte, auf einem großen Absatz mitten in die Wand gebaut und in circa 5 Meter Höhe über dem Boden thronend. Zu dieser Hütte gelangte man nur von unten und musste klettern, von oben war es einfach zu hoch und die Wand komplett senkrecht. Während wir am Steinbruch spielten, fanden wir oberhalb der Hütte einen großen, umgefallenen Baum, der bereits halb über dem Abgrund des Steinbruchs hing. Natürlich wollten wir den Baum nur aus dem Weg räumen und keinen Schaden anrichten (…). Auf Grund der massiven Größe und Länge war es uns unmöglich, den Baum auch nur ansatzweise zu schieben oder zu rollen. Doch uns fiel auf, dass wir ihn an den seitlichen Ästen in Schwingungen versetzen konnten. Und so lernten wir unsere erste Physik-Lektion: Kleine Schwingungen können Großes bewirken.
Während Moritz am oberen Ende des Baumes stand, versuchte ich mein Glück nahe am Abgrund und bewegte dort die Äste des Baumes. Wir stellten fest, dass wir beim Ziehen an den Ästen denselben Rhythmus erreichen mussten, damit der Baum durch die Schwingungen ganz leicht rutschte. Es reichte aber nicht. Genial wie wir waren, verstanden wir, dass einer noch näher an das andere Baumende musste, damit die Schwingungswirkung größer wurde. Also näher an den Abgrund … und so schaltete ich mein geniales Gehirn aus, die Muskeln an und kletterte von oben in die steile und tiefe Steinbruch-Wand. Einiger Meter unterhalb der oberen Kante gab es einen kleinen Vorsprung, wo ein langer Ast des Baumes hin reichte und ich zudem hinunter gelangen konnte. Nun war unser Schwingungsmoment größer und die Physik perfekt. Die Todesgefahr ebenso. Denn der riesige Baum kam tatsächlich ins Rutschen, und wie! Er schoss über den Abgrund, bekam die Schwerkraft zu spüren und neigte sich mit seiner Krone exakt talabwärts Richtung Hütte. Beinahe hätte ich diesen Ritt live miterlebt, denn die seitlichen Äste schossen an meinem schmalen Standplatz vorbei. Verzweifelt klammerte ich mich an den Steinen fest, um nicht mitgerissen zu werden. Die Belohnung dafür war eine gigantische Zerstörungs-Show der Holzhütte, welche mit einem tosenden Knall in hunderte Teile zerfetzte und mit dem Baum weiter gen Boden flog. Das Ende der Geschichte war ein massives Trümmerfeld und zwei begeisterte Kinder, die schnell das Weite suchten. Im Fliehen hatten wir ja bereits Erfahrung.